Emmett Till: Gelyncht mit 14 Jahren - US-Mordfall wird neu aufgerollt (2024)

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Die fensterlose Kammer befindet sich im Untergeschoss, ganz hinten. Besucher müssen an einer Reihe von Glasvitrinen vorbei, was ihnen genug Zeit gibt sich vorzubereiten. Erst dann, nach einer letzten Ecke, stehen sie direkt davor.

Der weiße Kindersarg ist geöffnet, wie damals. Man muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um hineinzuschauen. Statt des Leichnams liegt da ein Foto von einem aufgedunsenen, geschundenen Gesicht, das nicht mehr als menschliches Antlitz zu erkennen ist.

"Emmett Louis Till", steht an der Wand darüber. "25. Juli 1941 - 28. August 1955".

Hunderte drängen sich täglich schweigend durch diese Katakombe. Es ist eines der kleinsten, zugleich aber auch bewegendsten Exponate im National Museum of African American History and Culture in Washington, nur wenige Schritte vom Weißen Haus.

Die Narben des Rassismus

Das Ende 2016 eröffnete Museum zeichnet die lange Odyssee der Afroamerikaner nach, vom Sklavenhandel bis zu modernen Ikonen wie Martin Luther King, Oprah Winfrey und Barack Obama. Der emotionale Angelpunkt dieser beklemmenden wie erhebenden Dauerausstellung ist freilich - Emmett Till.

Am Mittwoch dieser Woche wäre er 77 Jahre geworden. Doch in Mississippi fiel er 1955 einem grausigen Lynchmord zum Opfer. Emmett Till war erst 14, ein argloser, schwarzer Teenager. Die Bilder seiner Leiche waren die ersten, die das Leid der Afroamerikaner weltweit dokumentierten.

Eines dieser Fotos hängt, mit einer Warnung versehen, in der Nähe des Sargs, viele Museumsgäste verharren weinend davor. Zumal der Mordfall, der längst bei den Akten lag, nun neu aufgerollt werden soll. Schon brechen die alten Wunden wieder auf - wobei sie in Wahrheit nie richtig verheilt sind.

"Jeder soll wissen, was mit Emmett geschehen ist"

Was in jenem Sommer 1955 geschah, bleibt umstritten. Emmett, der mit seiner alleinerziehenden Mutter Mamie Till in Chicago lebte, war zu Besuch bei seinem Onkel in Money, einem Dorf in Mississippi. Er war ein lebenslustiger Junge, zog sich gern gut an, vor allem liebte er feine Hüte und Anzüge.

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Emmett Till: US-Lynchmord wird neu aufgerollt

Foto: AP

Eines Abends ging Emmett mit seinen Cousins in einen Lebensmittelladen des Weißen Roy Bryant und seiner Gattin Carolyn, um Bonbons zu kaufen. Emmett soll beim Anblick der attraktiven Frau bewundernd gepfiffen haben - ein Verstoß gegen den ungeschriebenen Rassenkodex, der in den Südstaaten damals noch herrschte. Carolyn Bryant behauptete später außerdem, Emmett habe sie begrapscht.

Einige Tage darauf, am 28. August, verschleppten Roy Bryant, sein Halbbruder J.W. Milam und weitere Männer - angeblich schwarze Arbeiter - frühmorgens den Jungen, dessen Onkel und Tante das vergeblich zu verhindern versuchten. Die Täter folterten Emmett Till, schossen ihm eine Kugel in den Kopf, beschwerten seinen Körper mit Metall und Stacheldraht und warfen ihn, wohl schwerst verletzt und noch lebend, in einen Fluss.

Die Leiche trieb nach drei Tagen an. Zu erkennen war Emmett nicht mehr. Seine verzweifelte Mutter bestand bei der Beerdigung auf einen offenen Sarg und lud Pressefotografen ein: "Jeder soll wissen, was mit Emmett geschehen ist."

Dramatisches Eingeständnis

Der Prozess gegen Bryant und Milam war eine Sensation. Aus dem ganzen Land reisten Reporter, Politiker und Schaulustige nach Mississippi. Trotz der Beweislast sprachen die Geschworenen - allesamt weiße Männer - die Angeklagten frei. Bryant und Milam gaben die Tat kurz darauf zwar in einem Interview zu, blieben aber wegen des in den USA geltenden Verbots doppelter Strafverfolgung unbehelligt.

Die Fotos der entstellten Leiche und der skandalöse Freispruch lösten eine Welle des Entsetzens aus. Die Rassentrennung mit täglicher Diskriminierung bis zu brutalen Misshandlungen prägte in den Fünfzigerjahren das Leben der Schwarzen vor allem in den Südstaaten. Emmetts wundes Antlitz wurde erst zum Symbol der rassistischen Unterdrückung - und dann zum Symbol des Widerstands dagegen.

Im September 1955 kamen seine Mörder in Mississippi straflos davon; im November wurden sie auch noch von der Anklage der Entführung, die sie selbst zugegeben hatten, freigesprochen. Am 1. Dezember dann weigerte sich die Bürgerrechtlerin Rosa Parks in Alabama, ihren Bussitzplatz für Weiße freizumachen - sie wurde verhaftet, verlor Job und Heim. Die Wut der Schwarzen wuchs und speiste das Erstarken der US-Bürgerrechtsbewegung.

Viel später, im Jahr 2007, endeten erneute Ermittlungen zum Mordfall Emmett Till ergebnislos. Doch kürzlich erklärte das Justizministerium, aufgrund "neuer Informationen" habe es die Sache "wieder aufgenommen". Allerdings versteckte es die knappe Ankündigung in einem 32-seitigen Routinebericht an den Kongress, ohne weitere Angaben.

"Wir wollen Gerechtigkeit"

Die mysteriösen "neuen Informationen" könnten von einer zentralen Person des Falls stammen - Bryants Frau Carolyn. Als inzwischen 72-Jährige räumte sie schon 2008 in einem Interview mit dem Historiker Timothy Tyson ein, ihre Vorwürfe gegen Emmett weitgehend erfunden zu haben. "Nichts, was dieser Junge getan hat, rechtfertigt das, was ihm zugestoßen ist", zitierte Tyson sie in seinem Buch "The Blood of Emmett Till", veröffentlicht im vergangenen Jahr.

Tyson selbst bezweifelt jedoch, dass Bryants späte Reue die Hauptursache für die neuen Ermittlungen ist. "Keiner dachte je, dass sie die Wahrheit sagte, und schon damals wollten sie nicht gegen sie vorgehen", sagte er auf CNN. Vielmehr hält er es für einen PR-Trick, mit der die Regierung von ihrer nach Tysons Ansicht rassistischen Politik ablenken wolle, etwa in den Kontroversen über die Einwanderung und die Bürgerrechte.

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Die beiden Haupttäter sind ohnehin längst tot. Aber auch andere, alte Fälle, bei denen die Verdächtigen noch lebten, führten bisher nur selten zu neuen Verurteilungen. Nicht zuletzt wegen der Verjährungsfristen: So können rassistische Straftaten, die vor 1968 verübt wurden, heute nicht mehr von staatlichen Behörden geprüft werden.

"Wir wollen Gerechtigkeit", sagte Deborah Watts, eine Cousine Emmetts, der Zeitung "Star Tribune". Wenigstens solle man zu seinem Geburtstag mittags einen Schweigemoment einlegen und seinen Namen laut sagen: "Das sind wir ihm schuldig."

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