Die Frau, die Emmett Till auf dem Gewissen hat, ist tot (2024)

Sie war 21 Jahre alt. Er hatte soeben seinen 14.Geburtstag gefeiert. Sie war weiss, er hatte eine dunkle Hautfarbe. Ihr zufälliges Zusammentreffen am 14.August 1955, in einem Lebensmittelgeschäft in einem kleinen Dorf im Gliedstaat Mississippi, sollte die Geschichte des Landes für immer verändern.

Was sich zwischen Carolyn Bryant und Emmett Till an diesem Mittwochabend in Money ereignete, darüber streiten sich auch heute noch Historiker. Klar ist nur: Vier Tage später war Till, der im Sommer 1955 bloss einige Zeit mit seinen Verwandten hatte verbringen wollen, tot; brutal ermordet, weil der Knabe aus Chicago mutmasslich gegen eines der wichtigsten ungeschriebenen Gesetze verstossen hatte, das damals in weiten Teilen der USA galt. Er, der schwarze Teenager, hatte versucht, eine weisse Frau anzumachen.

Till habe im Lebensmittelgeschäft ein paar Süssigkeiten kaufen wollen, schrieb Carolyn Bryant später in ihren 2009 verfassten Memoiren. Als er gezahlt habe, habe er die Hand von Bryant, die den Laden zusammen mit ihrem Mann und einem befreundeten Paar führte, gepackt und ihr gesagt: «Du musst keine Angst haben, ich bin schon mit weissen Mädchen zusammen gewesen.» Dann habe Till sie um ein Date gebeten, sie an den Hüften berührt und sexuelle Andeutungen gemacht.

Ein brutaler Mord, der ungesühnt blieb

Als ein Verwandter Till aus dem Laden geholt habe, angeblich erschrocken über den Vorfall, soll der Teenager ihr noch nachgepfiffen haben, heisst es oft in den Geschichtsbüchern.

Das stimmt vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Was aber stimmt, ist: Bryants Gatte, der 24 Jahre alte Roy, erfuhr von der Zufallsbegegnung, als er am Samstag nach Hause zurückkehrte. (Er war nebenher auch noch als Lastwagenchauffeur tätig.) Wahrscheinlich erzählte ihm ein Augenzeuge, dass sich im Lebensmittelgeschäft etwas Ungewöhnliches ereignet habe.

Umgehend machte sich Roy Bryant, zusammen mit seinem Halbbruder J.W. Milam, auf die Suche nach dem jungen Afroamerikaner. Sie wollten ihm eine Lektion erteilen, so wie das damals im Süden der USA gang und gäbe war. Bryant sagte später: Wenn ein Schwarzer beginne, über Sex mit einer weissen Frau nachzudenken, dann habe er genug vom Leben.

Als die beiden Männer Emmett Till in der Nacht auf Sonntag im Haus seines Grossonkels fanden, entführten sie ihn kurzerhand. Carolyn Bryant soll den Jungen identifiziert haben. Die beiden Männer verschleppten Till in ein anderes Dorf, wo sie den 14-Jährigen in einer Scheune brutal verprügelten. «Mutter, bitte rette mich», will ein Augenzeuge Till schreien gehört haben. Dann erschossen Bryant und Milam den Knaben und versenkten die Leiche im Tallahatchie River, indem sie diese mit einer Landmaschine beschwerten.

Die Leiche tauchte drei Tage später wieder auf. Und damit liess sich das Verbrechen, das Bryant und Milam trotz entsprechenden Ermittlungen abgestritten hatten, nicht länger vertuschen. Die beiden Männer wurden wegen Mordes angeklagt, in einem aufsehenerregenden Prozess im September aber von den Geschworenen freigesprochen. Die Urteilsberatung der Jurymitglieder, allesamt weisser Hautfarbe, dauerte bloss 1 Stunde und 8 Minuten.

Der Stein, der die Bürgerrechtsbewegung ins Rolle brachte?

Und doch blieb der Tod des jungen Knaben aus Chicago nicht folgenlos. Seine Mutter, Mamie Till-Mobley, bestand auf einer Beerdigung in Illinois und darauf, dass der Sarg ihres einzigen Kindes während der Bestattung nicht geschlossen werde. Zehntausende von Menschen sahen mit eigenen Augen, was die Männer in Mississippi mit dem 14-Jährigen angerichtet hatten. Die Zeitschrift «Jet», beliebt unter afroamerikanischen Leserinnen und Lesern, veröffentlichte Bilder des toten Emmett Till. Die gesamte Auflage, 400000 Exemplare, war umgehend ausverkauft.

Nicht wenige Historiker sind der Meinung, dass die Ereignisse in Mississippi und Chicago einen Stein ins Rollen brachten, der später, Jahre später, mithilfe der Bürgerrechtsbewegung die amerikanische Apartheid-Politik zerstörte. Carolyn Bryant aber war das egal. Sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, nachdem ihr Gatte und sein Halbbruder in einem Zeitschrifteninterview zugegeben hatten, Till ermordet zu haben. (Aufgrund der eisernen Regel im amerikanischen Strafrecht, dass ein Verdächtiger nicht zweimal aufgrund desselben Verbrechens angeklagt werden kann, blieb dieses Geständnis rechtlich folgenlos.)

J.W. Milam starb 1980, Roy Bryant 14 Jahre später. Zu diesem Zeitpunkt lebte Carolyn bereits nicht mehr mit ihm. Sie liess sich in den siebziger Jahren scheiden, angeblich weil er auch ihr gegenüber gewalttätig geworden war. Dann tauchte sie ab und suchte fernab von Money nach einem glücklicheren Leben. Die beiden gemeinsamen Kinder starben 1995 und 2010.

Zuletzt verzichtete eine Grand Jury 2022 auf eine Anklage

Emmett Till aber liess die alte Frau nicht los, die nun Carolyn Bryant Donham hiess. Dem Publizisten Timothy Tyson sagte sie angeblich im Jahr 2008 in einem Interview, das eigentlich noch jahrelang hätte unter Verschluss bleiben sollen: «Nichts, was dieser Knabe getan hat, könnte jemals rechtfertigen, was mit ihm passiert ist.»

Auch gab Bryant zu, dass sie gelogen habe, als sie 1955 behauptet habe, Till habe sie sexuell belästigt. «Dieser Teil» ihrer Aussage stimme nicht, sagte sie, auch wenn sie sich nicht mehr wirklich an den genauen Ablauf des Vorfalls erinnern könne. Der Wahrheitsgehalt dieses Geständnisses wurde allerdings umgehend angezweifelt.

Die Versuche der Justiz, den Mord an Till Jahrzehnte später noch zu sühnen, blieben erfolglos. Zuletzt entschied im August 2022 eine Grand Jury im Verwaltungsbezirk Leflore County (Mississippi), auf eine Anklage gegen Carolyn Bryant Donham zu verzichten.

Am Dienstag ist die weisse Frau, die Emmett Till auf dem Gewissen hat, im Alter von 88 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung in Westlake (Louisiana) gestorben. Der Lebensmittelladen, in dem sie 1955 zufällig auf den Teenager traf, steht noch heute: eine Ruine, in deren Nähe eine Tafel an die folgenschweren Ereignisse am 14.August 1955 erinnert.